Lost Child on Jazz’n’More
Tief emotionale Texte sowie ein traumhaftes Gespür für die spannendsten Stil- und Spielarten der schwarzen Musik prägen den Sound von Justina Lee Brown. Ende September wird die in Nigeria geborene Sängerin im Nordportal Baden ihr neues Album ”Lost Child” vorstellen. JAZZ’N’MORE hatte die Gelegenheit, eine erste Kostprobe der Aufnahmen zu hören und Fragen zu stellen. Von Marco Piazzalonga
JAZZ’N’MORE: Im Herbst 2019 erschien dein aufsehenerregendes Album ”Black & White Feeling”. Nun steht die Veröffentlichung des Nachfolgers ”Lost Child” an. Wie hast du die vier dazwischenliegenden Jahre erlebt?
Justina Lee Brown: Das Album ”Black & White Feeling” war für mich wie eine Erlösung, ein Geschenk, eine Heilung. Ich war unsicher, ob ich fähig sein würde, nicht nur auf der Bühne, sondern auch auf einem Album meine Schmerzen und meine Gefühle ausdrücken zu können. Ich war glücklich über die Reaktion der Leute, denn es war mein erstes offizielles Soloalbum. Will heissen: komplett mit eigenen Songs.
Musikalisch in jene Richtung weisend, in die ich schon immer gehen wollte – Soul, Blues, Funk, Afro! Ich war ein wenig nervös, machte mir Sorgen. Was würden wohl meine Bluesfans, was meine Afro-Community davon halten? Würden sie meine Musik akzeptieren? Rückblickend weiss ich, ich habe es richtig gemacht, das Album hat mir Selbstvertrauen gegeben. Wir waren begeistert über den Erfolg – die Konzertanfragen purzelten nur so herein. Und dann, von einem Moment auf den anderen: Corona. Dies raubte uns für mehr als anderthalb Jahre die Möglichkeit, mit unserer Musik auf die Bühne zu gehen.
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JNM: Wie hast du diese Zeit überbrückt?
JLB: Zum einen gab die Stärke der Songs von ”Black & White Feeling” mir, meiner Band, meinem ganzen Umfeld Kraft. Zum anderen gelang es mir, alle meine Gefühle zu kanalisieren und Tag und Nacht Songs
zu schreiben. Buchstäblich Tausende Songideen habe ich in all den Monaten zu Papier gebracht, um jegliche aufkommende Depression aus meinem Körper zu ”schreiben”! Wenn ich jetzt rückblickend diese Songs betrachte, so sehe ich, dass praktisch alle einen positiven Ansatz haben. Es ist mir gelungen, meine Gefühle, Erfahrungen und Probleme in positiver Weise zu verarbeiten.
JNM: Das neue Album hast du mit deiner Liveband eingespielt. Wie seid ihr die Aufnahmen angegangen?
JLB: Wir zogen dieses Mal mit Tobias Gilgen einen aussenstehenden Produzenten bei, der Nic Niedermann und mich bei der Produktion unterstützte. Er half uns, die Musik ”solider” zu machen. Die Songs standen alle bereit, ich wusste genau, was ich wollte. Nic fasste dann meine Vorstellungen in Akkorde, musiktheoretisch bin ich da zu wenig versiert.
THE SONGS
JNM: Streifen wir ein paar Songs: Was hat es mit ”10k Feelings” auf sich?
JLB: Dieser Song verkörpert exakt mein Soulblues- oder Rockblues Verständnis. Ich bin nicht old school. Ich strebte nach einem modernen Bluessound und da kam Tobias ins Spiel. Er kreierte diesen modernen Blues-Klang. Vom Text her geht es kurz gesagt um die verschiedenen Arten von Emotionen, die eine Beziehung bestimmen oder ihr auch schaden können. Kommen diese Emotionen von Herzen, sind sie ehrlich gemeint?
JNM: Was ist die Bedeutung von ”Billiki”?
JLB: Billiki ist der Name eines Mädchens. Ein Yoruba-Name aus West Nigeria. In diesem Song geht es um das Thema Kindsmissbrauch. Dies ist mein erster Song darüber, was mir als Siebenjährige widerfahren
und ich erst 25 Jahre später fähig war, darüber zu reden. Das Schlimme ist, dass in gewissen Gegenden Afrikas acht oder neun von zehn Mädchen sexuelle oder häusliche Gewalt erleben müssen, in die Prostitution gezwungen werden oder einfach verschwinden. Heute noch! Und die Community schweigt. Während der Corona-Zeit sah ich eine Doku über ein 11-jähriges Mädchen, welches an den Folgen einer Vergewaltigung starb. Mir brach das Herz. Und ich wusste, ich musste diesen Song schreiben. Billiki ist ein Symbol für alle misshandelten Kinder.
JNM: Das Titelstück, die kraftvolle Bluesnummer ”Lost Child”?
JLB: Das verlorene Kind bin ich. Verloren zwischen den Welten. Als Corona vorbei war, besuchte ich nach vielen Jahren wieder Nigeria. Dort spürte ich, dass meine Verbindung zu meiner Heimat gerissen war. Ich fühlte mich fremd in Nigeria. Und als afrikanische Frau werde ich auch in Europa als Fremde abgestempelt.
JNM: Ein Wort zu ”Happy Day”?
JLB: Diesen Song zu schreiben, wirkte befreiend. Inspiriert wurde ich durch einen frühmorgendlichen Sonnenstrahl, der durchs Fenster fiel und durch den Gesang der Vögel draussen in den Bäumen. Ich
sagte mir: Was für ein wunderschöner Tag! All die trüben Gedanken verschwanden und ich begann zu singen!